Sola Scriptura II

von Jörn Krebs
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Nicht jeder, der regelmäßig eine Bibel in die Hand nimmt, ist sich bewusst, wie wichtig sie ist. Wie wichtig die Schrift ist, zeigt sich unter anderem darin, dass sie den Weg zum Heil aufzeigt und es keine andere wirklich mit Gott versöhnende Botschaft gibt als die, welche die Schrift bezeugt (vgl. Galater 1,6-9).

Die grundsätzliche Wichtigkeit der Schrift bezeichnet auch der Begriff Sola Scriptura („allein die Schrift“). In einem ersten Artikel habe ich beschrieben, woher der Ausdruck Sola Scriptura kommt und was er historisch bedeutet. Das gesamte Selbstzeugnis der Bibel zum Thema ihrer Autorität ist sehr weitreichend. Aber wie ich im ersten Artikel vorgeschlagen habe, lässt sich der Autoritätsanspruch der Bibel mit einem bildlichen Vergleich zusammenfassen:

„Die Schrift allein ist die Herrscherin, aber sie hat viele Diener (vgl. Römer 1,20; 2,14-16; 1. Thessalonicher 5,19-21; Hebräer 13,7). Sie weist auf den höchsten Herrscher hin (vgl. Johannes 5,39-40) und rüstet den Menschen zu seinem Dienst aus (vgl. 2. Timotheus 3,16-17).“

Die Schrift äußert sich nicht direkt zu allem, aber sie hat über alles „das letzte Wort“

Wenn wir die Bibel als eine Art Enzyklopädie verstehen, in der wir erwarten, zu allem, was uns interessiert, eine direkte Aussage zu finden, dann werden wir enttäuscht werden. Die Schrift will sich gar nicht zu jedem Detail des altertümlichen oder auch des modernen Lebens äußern. Sie ist nicht der Versuch einer Sammlung des gesamten Weltwissens und auch kein altertümliches Wikipedia. Sie spricht nicht viel über naturwissenschaftliche Gesetze, so dass wir in ihr z.B. keine genaue Definition der Stärke der Erdanziehungskraft (g) finden. Auch, dass Sonnenlicht eigentlich aus vielen Spektralfarben zusammengesetzt ist, sagt sie uns nicht ausdrücklich. All diese Dinge mögen in unseren Augen mehr oder weniger wichtig erscheinen, aber die Bibel äußert sich vor allem zu den wichtigsten Dingen im Leben. Das heißt, sie äußert sich vor allem in Blick auf unser Leben mit Gott.

Die Bibel will daher nicht zu allen Dingen des menschlichen Lebens ausdrücklich etwas sagen, aber sie hat das „letzte Wort“, d.h. die letzte Autorität und volle Fähigkeit, unser Verhältnis mit Gott zu beschreiben. Die Bibel ist also nicht wie eine Landkarte, auf der jede Kleinigkeit unseres persönlichen Lebens abgebildet ist, sondern ein Kompass und ein Licht auf unserem Weg durch die Zeiten (Psalm 119,105).

Historisch und theologisch ist es sehr treffend, von der Bibel als einer Art Verfassung zu sprechen. Dies spiegelt sich u.a. in den Namen Altes und Neues „Testament“ wieder. Das Wort „Testament“ hatte früher eine ähnliche Bedeutung wie unser modernes Wort „Verfassung“. Ein Staat gibt sich eine Verfassung, um seine wichtigsten und grundlegendsten Prinzipien und Werte festzuhalten. Alle späteren Gesetze bauen darauf auf. In einer Verfassung sind die wichtigsten Leitlinien enthalten, gegen die später gemachte Gesetze geprüft werden müssen. Viele Einzelfragen wie etwa zum Steuerrecht werden darin nicht aufgeführt, da sie eine geringere Wichtigkeit haben. So wie die Verfassung eines Staates zur Überprüfung von verschiedenen Gesetzen, Praktiken und Ideen dient, so will es auch die Schrift im Leben der Menschen tun. Demnach ist die Schrift nicht in erster Linie ein Gesetzbuch, in dem möglichst alle Fälle des Lebens ausdrücklich diskutiert werden, sondern eine Verfassung, welche uns das Leben mit dem lebendigen Gott des Alten und Neuen Testaments in seinen wichtigsten Grundzügen beschreibt und verbindlich umzeichnet. Die Bibel gibt als „Verfassung des Lebens mit Gott“ nicht zu jeder Kleinigkeit eine Definition, sondern sie gibt die letztgültigen und allerwichtigsten Definitionen.

Die Schrift setzt Dinge voraus, um richtig verstanden und treu angewendet zu werden.

Ich habe die Schrift bildlich mit einer Herrscherin verglichen, welche über viele Diener regiert. Was verstehe ich nun unter den Dienern der Schrift? In diesem Artikel konzentriere ich mich auf außerbiblisches[1] Wissen, verschiedene Funktionen des menschlichen Verstandes und sprachliche Kenntnisse, die von der Bibel vorausgesetzt werden, ohne zuvor von ihr ausführlich definiert worden zu sein. Dies geschieht zum Beispiel auch während sie uns in Gottes Auftrag belehrt oder Befehle erteilt, und damit praktisch ihre Autorität anwendet.

Wie muss man sich das vorstellen? Die Rolle dieser ungenannten, aber doch mit eingeschlossenen Informationen, wird anhand einiger Beobachtungen im Gespräch Gottes mit Adam im Garten Eden deutlich: Als Gott Adam gebot sich von der verbotenen Frucht fernzuhalten, da nahm er an, dass Adam bereits ausreichend allgemeines Wissen habe, um das Gebot auf die Bäume anzuwenden, die er sehen und anfassen konnte. Gott hat Adam nicht gesagt, was ein Baum ist, wie man Früchte von Blättern unterscheidet und was es bedeutet zu essen. Diese Dinge waren allgemeines Wissen. So erwartete Gott von Adam, das spezifische göttliche Verbot in Bezug auf einen gewissen Baum mit seinem Wissen über Bäume allgemein abzugleichen.[2] Gott sagt Adam also nur das Wichtigste. Seine Weisung ist sehr konzentriert und erklärt nicht alle Dinge „drum herum“. Gott traut Adam zu, dass er den Abgleich zwischen Gottes Gebot und seinem allgemeinen Wissen über Bäume und deren Früchte machen kann. Allgemein gesagt: Wenn man diesen Abgleich richtig macht, wird der Anspruch der Bibel z.B. durch außerbiblische Informationen nicht angefochten oder hinterfragt, sondern verstärkt. Der richtige Umgang mit allem Wissen der Menschheit (welches Gott auch für unser Verständnis seiner Wege gebraucht) besteht darin, Gottes Befehl und Wort darüber zu stellen. Das heißt, die Bibel darüber als Verfassung oder Herrscherin „herrschen“ zu lassen. Wenn die anderen Informationen und Kenntnisse wirklich wahr sind, was man manchmal erst durch genaue Prüfung feststellen kann, dann „dienen“ sie letztlich der Aussage der Bibel. Zum Beispiel entfalten korrekte außerbiblische Hintergrundinformationen zu einer Bibelpassage die inhaltliche Bedeutung der betroffenen Stelle. Aber die Schrift steht in der Autorität ihrer Selbstaussage über diesen Informationen.

Auch ein Maß an gesundem Denken ist nötig, um die Weisungen der Schrift gehorsam umzusetzen. So ist z.B. die Fähigkeit, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und zu übertragen, für die christliche Lebenspraxis sehr wichtig. Wenn angebrachte Überlegungen fehlen, „geht viel daneben“. Das verdeutlicht ein Beispiel, das John Frame in einer Gemeinde erlebt hat. Dort sollte ein theologischer Ausschuss Empfehlungen in Bezug auf das Thema Abtreibung verfassen. Der Ausschuss sprach sich letztlich gegen Abtreibung aus und verfasste eine entsprechende Vorgabe. Einige Personen aus der Gemeinde waren aber gegen die Vorgabe. Sie argumentierten, dass die Gemeinde sich gar nicht zu dem Thema äußern sollte. Wieso? Die Kritiker sagten: „Weil die Gemeinde durch Sola Scriptura begrenzt ist, und Abtreibung in der Bibel nicht erwähnt wird.“[3] Ohne die gedankliche Übertragung auf eine bestimmte Situation wird das Gebot, nicht zu töten, in diesem Fall wirkungslos. Das ist nahezu das Gegenteil praktizierter Autorität! Dieses Extrembeispiel macht deutlich: Wir können nicht allgemein im Namen von Sola Scriptura auf weiterführende Übertragungen verzichten![4]

Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Schlagwort Sola Scriptura steht für eine hierarchische Einordnung von Informationen und menschlichen Überlegungen unter der Autorität der Bibel als Wort Gottes. Im Bild meines anfänglichen Vergleichs gesprochen heißt das: Wie jeder guter Herrscher macht die Schrift nicht alles in ihrem Reich selbst, sondern lässt sich von wahrhaftigen Dienern zuarbeiten bzw. dienen, um letztlich diejenigen Dinge zu tun, die nur sie als Herrscherin tun kann und nur sie tun soll. In theologischen und moralischen Fragen heißt das, dass die Schrift die Werte und Richtlinien ausgibt, welche über allen anderen Größen stehen.

Die Schrift ist von Gott eingesetzt, um als Verfassung unseres Lebens zu wirken. Als Verfassung soll sie durch gute Überlegung unser Leben praktisch auf Gottes Richtlinien ausrichten. Sie macht uns das Evangelium Jesu Christi bekannt, welches uns allein mit Gott versöhnt und sie rüstet uns für ein Leben und eine Lebensweise zu, wie sie Gottes Wesen und Herrschaft entsprechen.


[1] Der Inhalt dieser Information widerspricht aber nicht den Inhalten der Bibel, sondern die Bibel setzt diese Information auf bestimmte Weise voraus, ohne sie selber ausdrücklich definiert zu haben.

[2] Vgl. John M. Frame, The Doctrine of the Word of God (Phillipsburg: P&R, 2010), S. 228.

[3] John Frame, Theology of Opportunity: Sola Scriptura and the Great Commission.

[4] Es gibt eine Vielzahl von anderen Beispielen, die deutlich machen, dass wir übertragen müssen oder es bereits tun. Zum Beispiel: Wer von uns benutzt nicht regelmäßig Auto, Bus oder Bahn? Wer benutzt nicht das Internet? Diese Aktivitäten werden in der Bibel (ausdrücklich) nicht genannt. Wer „Sola Scriptura/Alleine die Schrift!“ an dieser Stelle so anwendet, als sei die Bibel nicht eine Verfassung, sondern eine allein umfassende Enzyklopädie des richtigen Wissens und Handelns, sollte, um konsequent zu sein, nicht Auto fahren oder im Internet surfen. Natürlich macht das keiner! An dieser Stelle wird deutlich, dass kaum einer so lebt, als sei alles automatisch falsch, was nicht (ausdrücklich) in der Bibel genannt wird. Das heißt aber auch nicht, dass alles richtig ist, was nicht (ausdrücklich) in der Bibel steht. Wir müssen daher gründlich die Bibel studieren und sie bewusst und achtsam auf unser Leben anwenden, um wirklich den Richtlinien Gottes für uns zu folgen.

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