Einsame Wölfe – über eine über­sehene Ursache für Unverbindlich­keit

von Hanniel Strebel
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Generation „Ich komme (doch) nicht“

Die Einladung stand seit Wochen. Nach der zweiten Erinnerung meldete er sich an, um sich Stunden vor dem Anlass mit einem fadenscheinigen Argument zu entschuldigen.
Nach dem Gottesdienst wurden freiwillige Helfer gesucht. Es meldeten sich diejenigen, die sonst schon verschiedene Dienste übernehmen.
„In meinem Alter…“ hob ich beim Abendessen an. Doch meine Frau legte ihre Hand beschwichtigend auf meine und unterbricht mich.

Ob an der Arbeit, in der Kirche oder zu Hause im Umgang mit der nächsten Generation: Weshalb sind Menschen jüngeren Jahrgangs deutlich unverbindlicher als meine Generation (Jg. 1975)? Ich bin mir sicher, dass diese Frage mich nicht ohne Grund umtreibt. Ich ringe mit ihr, um selbst in der Heiligung und in einem weisen Umgang mit anderen zu wachsen.

Generation Vaterlos

Ich komme, Gott sei Dank dafür, aus einem Elternhaus, in dem Vater und Mutter nicht nur zusammenblieben, sondern auch aktiv um ihre Beziehung kämpften, immer wieder zusammenfanden und bis zum heutigen Tag nach immerhin 47 Jahren ein freudiges „Ja“ zueinander haben.

Was bei mir deswegen bisweilen unter den Tisch fällt ist die Tatsache, dass eine solche Beziehungsbiografie heute zur absoluten Ausnahme geworden ist. Ein großer Teil der nachfolgenden Generationen stammt aus Familien mit markanten und unwiderruflichen Brüchen. Unser Begriff „Ehe-Bruch“ beschreibt ja eine Situation, in der etwas zerbricht. Ein gesamtes Beziehungsgefüge gerät dadurch in eine ernsthafte Schieflage. Dies Büchern mit Titeln wie Glückliche Scheidungskinder o.Ä. zum Trotz.

Emotional unterversorgt

Manche Kinder, die solche Grunderschütterungen durchlebt haben, mussten sich in der Folge einen „emotionalen Panzer“ zulegen: Um ihr emotionales Überleben zu sichern, verschlossen sie sich gegenüber ihren Nächsten. Innerlich fest entschlossen, eine solche Situation kein zweites Mal zuzulassen, riegeln sie sich innerlich gegen emotionale Zugriffe ab.

Dies äußerte sich in einer Kehrseite: Im Endergebnis wurden sie, emotional unterversorgt, zu einer Art „Selbstversorger“: Kein Mensch, insbesondere keine männliche Person, kümmerte sich je ernsthaft um ihre inneren Kämpfe. Die Väter waren nicht präsent – ihre Abwesenheit hinterlässt eine Lücke über mögliche Verhaltensweisen in vielen Situationen des Alltags, in Versagen ebenso wie in Freude.

Eine Prüfung geschafft? Mann war mit seiner Freude allein. Abends auf die Mutter gewartet, die sich von der Arbeit verspätete? Mann war mit seiner Sehnsucht allein. Eine Auseinandersetzung gehabt in der Clique? Es gab keinen Vater, dem Mann dies abends hätte anvertrauen können.

Geistliche Selbstversorger

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Nehmen wir an, dass Gott einen solchen jungen Mann zu sich ruft. Ihm wird der Zugang zur Bibel aufgeschlossen. Er entdeckt Schätze in Gottes Wort. Nur er behält einen Gutteil seiner bisherigen Sozialgewohnheiten bei. Die Schätze lassen sich auch zuhause im Internet erkunden: Denn YouTube, Blogs oder auch Amazon beliefern rund um die Uhr mit interessanten Impulsen. Inhaltlich zu fetten Weiden geführt, bleibt er mit dieser Ernährung in ihrem dürren Umland.

Nun magst du vielleicht einwenden: „Meine Lebensumstände lassen nichts anderes zu. In meiner Gemeinde bekomme ich kaum Nahrung, stattdessen werden Sonntag für Sonntag ein paar Phrasen herunter gedroschen. In der Restfamilie bin ich der einzige Christ. Als ich dies dem Jugendleiter in einem Gespräch gestand, meinte er etwas im Stil: Du bist da als Kopfmensch eine Ausnahme. Christsein lebt von der Tat.“ Diese Zwickmühle beginnt am Willen zur Verbindlichkeit zu nagen.

Gebetsstunden? Keine Zeit!

Das Neue Testament spricht durchs Band vom Glauben innerhalb einer Gemeinschaft. Nun ja, einmal in der Woche einen Gottesdienst zu besuchen, das mag ja noch drin liegen. Für manche stellt dies schon eine schier unüberwindbare Hürde dar. Sie tun sich schwer aus dem Bett zu kommen. Unter der Woche? Viel zu beschäftigt! Man(n) weiß ja gar nicht, wie viel ein Single-Student zu erledigen hat.

Damit schließt sich buchstäblich ein Teufels-Kreis. Denn der junge Mann erfährt eine mangelnde Versorgung, entfremdet sich dadurch der Gemeinschaft und bleibt dieser fern. Diese entbehrt dadurch Gaben, die dringend benötigt worden wären.

Allein mitten in der Gemeinschaft

Doch nehmen wir einmal an, dass in unserem Beispiel die Einsicht nach der Einbindung in die Gemeinde reift. (Ich füge hinzu: Sehr oft wird dies durch eine geistlich reifere Person gleichen Geschlechts beschleunigt.) Dann sitzt ein solch einsamer Wolf im Gottesdienst oder sogar in der Gebetsstunde. Er konzentriert sich auf die Aussagen. Aber, dass es neben ihm noch andere Menschen gibt – Menschen mit körperlichen Schmerzen, Existenzsorgen wegen Arbeitslosigkeit oder Mütter mit einem chronischem Schlafdefizit – das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Denn eigentlich ist er inmitten der Gemeinschaft allein geblieben.

Der zweite Ruf – erweckt aus der emotionalen Isolation

Es braucht also eine Art zweite „Herausrufung“. Es geht um die Erweckung heraus aus der emotionalen „Ein-Igelung“. Außerhalb des Hörfelds des eigenen Kopfhörers befinden sich andere Menschen. Der Nachbar gegenüber. Der arbeitslose Mann dort auf dem Stuhl nebenan. Die Ausländerin mit Geldsorgen und schrecklichem Heimweh. Das vorsichtige Tappen aus der eigenen Einsamkeit hinaus öffnet allerdings die Türe zu einer bedrohlichen Welt. Sie hält schon einmal Erlebtes bereit: Unverständnis, Lieblosigkeit, Überhört- und Übergangen-Werden.

Ein erster Schritt aus der Einigelung könnte wirklich darin bestehen, den Gottesdienst fest einzuplanen. Vielleicht gibt es einige Menschen, die vor dem Gottesdienst noch zusammen beten. Wer weiß, es kommt der Sonntag, an dem der junge Mann der Betergruppe seine eigene Not der Isolation schildert. Er wird von einem älteren Ehepaar eingeladen. Nach einigen Treffen beschließen sie, zu dritt die Bibel zu lesen. Nach einigen Monaten nehmen sie einen weiteren jungen Wolf dazu.

Kommunitärer Grundrhythmus – neue Gewohnheiten in der Gemeinschaft

Gefordert sind neue Gewohnheiten – kommunitäre Gewohnheiten. Die Voraussetzung dafür lautet: Ein geregelter Tages- und Wochenrhythmus. Hier beginnt und endet das Experiment für manche. Beeindruckt höre ich von einem Geschäftsmann, der sich zuerst die Termine für die Gemeinde einträgt und seinen restlichen Verpflichtungen darum herum plant. Ich nehme zur Kenntnis, dass ein rigoroser „Bildersturm“, gemeint ist Disziplin bezüglich Online-Gewohnheiten, eine weitere Voraussetzung für eine neue Sozialisierung darstellt. Erst dies schafft Voraussetzungen, um überhaupt an andere zu denken und mit der Zeit sogar für sie vorauszudenken.

Das könnte konkret bedeuten, am Freitag und Samstag den Schlafrhythmus nicht mehr um viele Stunden zu verschieben, sondern sich eine Zeitlimits zu setzen. Ebenso könnte ein Vorsatz um der größeren Freude (an Jesus) willen darin bestehen, das stundenlange planlose Surfen im Internet aufzugeben.

Gastfreundschaft, Gastfreundschaft, Gastfreundschaft

Die Konsumindustrie hat das Denken in Zielgruppen und „Bubbles“ stark gefördert: schließlich gibt es Angebote für Zwei- bis Vierjährige ebenso wie für Ü45 oder Ü65. Wir ernten die Folgen dieser Überbetonung der Unterschiede zwischen Menschen in Form einer grassierenden Einsamkeit. Die Kluft zwischen dem „Einsamen Wolf“-Style und einem hingebungsvollen Leben in der Gemeinschaft scheint unüberbrückbar. Nicht als Lückenbüßer, sondern als echte Brücke gemeint: Gastfreundschaft zur gelegenen und ungelegenen Zeit scheint mir ein Hauptmittel eines Evangeliums-zentrierten Lebensstils zu sein.

Das bedeutet für Familien und besonders auch für die Golden Ager – Menschen in der dritten Lebensphase – ihre Komfortzone zu verlassen und regelmäßig junge Wölfe an ihrem Tisch sitzen zu lassen, in ihre Urlaube mitzunehmen und vielleicht sogar eine Einbauwohnung im eigenen Haus miteinzuplanen.

Ade, Perfektionismus!

Betreten wir deshalb die Baustelle auf der anderen Seite: Ich bin Vater einer Großfamilie. Gerade heute Abend empfangen wir Gäste – nach einer ersten turbulenten ersten Woche im neuen Schuljahr. Ich beginne gar nicht aufzuzählen, welche Termine und emotionalen Eindrücke sich in den vergangenen Tagen jagten.

Solange ich den Anspruch aufrechterhalte, nicht gestört werden zu dürfen, werde ich einsamen Wölfen nie Hand reichen können. Zeit und Kraft werden nie ausreichen. Fahren lassen will ich deshalb meinen Komfort. Lieber will ich mich von ehemaligen einsamen Wölfen über die Ziellinie ziehen lassen als geruhsam zu leben bis ans Ende meiner Tage.

Vom leiblichen Vater verlassen, vom himmlischen Vater angenommen

Meine erste Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Ursache für Unverbindlichkeit lautet: Sie liegt bei manchen nicht in erster Linie in der Anpassung an der Konsumgesellschaft begründet. Vielmehr führt eine unsichtbare Spur zum Mangel erlebter Vaterschaft zurück. Dabei stehen zu bleiben, hieße jedoch, die Spur in der Hälfte zu verlassen und einen biografisch bedingten „Mangel“ zu deklarieren.

Doch Gott der Vater stellt sich als das Urbild aller Vaterschaft dar (vgl. Eph 3,14f). Er adoptiert die vom Sklavenmarkt der Sünde freigekauften Söhne in seine Familie; sie sind in Ewigkeit Erbberechtigte (Röm 8,15-17). Sie gehören zur Braut Christi mit Aussicht auf die bevorstehende himmlische Hochzeit. Interessanterweise wird das weiße Hochzeitskleid mit den gerechten Taten der erlösten Sünder gleichgesetzt (Offb 19,7-8). Durch das erneuerte Herz geht ihr Streben dahin, dankbar ihren Platz in der neuen Familie einzunehmen, in der sie durch Gottes Geist hineingestellt worden sind (vgl. 1Kor 12). Sie verstehen sich damit als Teil eines Organismus. Die einzelnen Glieder sind aufeinander angewiesen. Wie wirkt sich dies auf ihren Alltag aus?

„Wenn auch mein Vater und meine Mutter mich verlassen, so nimmt doch der HERR mich auf.“ (Ps 27,10) Weil sie adoptiert worden sind, werden ihre Herzen geweitet, um sich den anderen zuzuwenden.

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3 Kommentare

Aufsatz: Einsame Wölfe – eine übersehene Ursache für Unverbindlichkeit – Hanniel bloggt. 15. Oktober 2021 - 11:24

[…] kann ein Leben (zurück) in die Gemeinschaft aus biblischer Weltsicht aussehen? Dem gehe ich im Artikel auf Josiablog nach. Im Rahmen meiner Vorträge in Aidlingen habe ich meine Beobachtungen mündlich erläutert (26 […]

antworten
typo 16. April 2022 - 18:12

Müsste es nicht heißen: „Nur er behält einen Gutteil *seiner* bisherigen Sozialgewohnheiten bei.“?

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David Suppiger 2. Mai 2022 - 21:49

Da hast du natürlich recht. Haben wir gleich korrigiert :).

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