Wo ist mein Zuhause? – Predigt zu Psalm 27

von Hanniel Strebel
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An welchen Orten hältst du dich am liebsten auf? Mein erster Gedanke geht zur Wohnung, die ich mit meiner Familie seit über zehn Jahren bewohnen darf. Ich sehe mich mit meinem Jüngsten abends auf dem Bett sitzen und ein Quartett spielen. Dann kommen mir Bilder von Lieblingsorten in meiner Heimatstadt in den Sinn: Die Mittagspause in der Badi Tiefenbrunnen mit Blick Richtung Berge; der Nachhauseweg abends durch das Zürcher Seefeld; der Spaziergang auf dem Hohensteinweg bei Föhn. Wir alle kennen Orte, wo es uns hinzieht, wo wir gerne verweilen und gerne wieder hingehen.

Aus Psalm 27 erfahren wir, nach welchem Ort sich David sehnte. Im ersten Teil geht es um seinen vordringlichsten Wunsch, jederzeit im Tempel wohnen zu dürfen (Vers 4). Im zweiten Teil bedenken wir die Auswirkungen dieser Geborgenheit: Zuversicht und Mut im starken Gegenwind.

Wie lesen wir einen Psalm?

Um einen Psalm gewinnbringend zu lesen, braucht es eine Einweisung in die hebräische Poesie.

Anders als in der deutschen Sprache lebt diese nicht von Silben und Reimen, sondern von mehreren aufeinander bezogenen Satzteilen, die auf uns wie eine Wiederholung wirken. Diese sind absichtlich und kunstvoll eingesetzt worden. Einige Beispiele aus Psalm 27:

  1. Verstärkung: Zwei Doppelungen „Licht/Heil – Lebenskraft“ und „fürchten – grauen“ (Vers 1)
  2. Steigerung: „Übeltäter/Widersacher“ und „Feinde“ bzw. „Heer“ und „Krieg“ (Verse 2-3)
  3. Ergänzung: Den zweiten Teil muss man sich denken (Vers 13)
  4. Präzisierung: Stark sein heißt Mut fassen und geduldig ausharren (Vers 14)

Die Psalmen wurden ursprünglich gesungen. Sie sind nicht geeignet, wie ein Zeitungsbericht rasch überflogen und konsumiert zu werden. Ein solcher Text will gelesen und nochmals gelesen, gesungen, gebetet und sinnend bedacht werden. Dies gilt auch für das Lesen der übrigen Kapitel der Bibel: Man liest sie wieder und wieder, bis man im Text mitschwingt.

Die Ausleger haben sich überlegt, zu welchem Anlass der 27. Psalm gesungen wurde. Einige haben an die Einsetzung des Königs oder die jährliche Erinnerung daran gedacht. Bei diesem Zeitpunkt übernahm der König nämlich die Pflicht, sich täglich mit dem Gesetz seines Gottes auseinanderzusetzen (5. Mose 17,14-20). Andere haben vermutet, dass David diesen Psalm vor einem Kriegszug betete. Der militärische Ton, der den ganzen Psalm durchdringt, macht dies zu einer glaubhaften Möglichkeit.

1. Der Wunsch: Ich will im Tempel wohnen.

Wir „zoomen“ den vierten Vers des Psalms näher heran und überlegen uns, welche Gedanken David darin entfaltet. „Eines erbitte ich von dem Herrn, nach diesem will ich trachten: dass ich bleiben darf im Haus des Herrn mein ganzes Leben lang, um die Lieblichkeit des Herrn zu schauen und [ihn] zu suchen in seinem Tempel.“ (Psalm 27,4)

David fokussierte sich auf einen Wunsch. Hast du schon mal Kinder beobachtet, die etwas auswählen dürfen? Die einen überlegen hin und her; andere greifen überzeugt zu, weil sie genau wissen, was sie bevorzugen. Wir gleichen der ersten Gruppe. Zögerlich strecken wir die Hand nach einer Option aus, um sie im nächsten Moment wieder zurückzuziehen. Wir zaudern, weil wir an die vielen anderen Optionen denken. Wir sind unsicher, ob es nicht noch eine bessere Variante gäbe. David war völlig davon überzeugt, welches die beste Möglichkeit für ihn war.

Es ist erbeten. Wir sind gewohnt, dass wir alles selber steuern und in der Hand behalten. Wir orientieren uns an der gesellschaftlichen Norm: Mein Wille ist mir Befehl! Manche jungen Leute erfahren erst in der Berufswelt das erste größere Hindernis ihres Lebens. Bisher war alles nach Lust und Laune gelaufen. Wenn sie aber an der Arbeit an die Grenzen ihrer Kräfte kommen oder wenn es mit dem schwanger werden nicht klappt, werden sie mit der Realität des Lebens konfrontiert. Es läuft nicht alles so, wie wir es wollen. David wusste darum, dass er seinen Wunsch nicht selbst umsetzen konnte, sondern vom Herrn erbeten musste.

Es bestimmt seine Blickrichtung („nach diesem will ich trachten“): Einige Dinge wollen wir zwar gerne tun, doch im nächsten Moment sind sie wieder vergessen. Hast du schon mal einen Menschen beobachtet, der mit ganzer Kraft etwas anstrebt? Das kann Haltung und Aktivitäten dieses Menschen völlig verändern!

Es ist der beste Ort. Kennst du den Gedanken, dass du dich an einem Ort aufhältst, wie es keinen schöneren mehr gibt? Die Bibel macht uns von der ersten bis zur letzten Seite klar, dass sich dieser Ort bei dem befindet, der uns geschaffen hat. Luther hat den Satzteil mit „schönen Gottesdiensten“ übersetzt. Er dachte also an die gemeinsamen Zeiten des Gottesvolkes, wenn sie vor ihrem Schöpfer Gottesdienst feierten.

Es ist ein lieblicher Anblick. Was ist mit „lieblich“ gemeint? Es wirkt anziehend, anmutend, lädt zum Verweilen ein, beruhigt und regt gleichermaßen an. Um diesen Wunsch Davids in unsere Gegenwart und unser Leben zu transportieren, können wir uns fragen: Wo ist dieser Tempel heute? Wir können diese Überlegung aus der zeitlichen und personellen Optik heraus anstellen. Jeder Mensch, in dem Gott Wohnung genommen hat durch den Heiligen Geist, ist Gottes Tempel (1. Korinther 6,19). Dies gilt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft. Offenbarung 21 berichtet davon, dass Gott bei den Menschen wohnen wird. Er verwendet dabei eine Formulierung der Propheten des Alten Testaments. „Er wird unser Gott sein und wir werden sein Volk sein.“ (Offenbarung 21,3). Diese Gemeinschaft wird dann nicht mehr durch die Sünde beeinträchtigt sein. Der heilsgeschichtliche Bogen wäre unvollständig, wenn wir ihn nicht zu Jesus als dem ultimativen Tempel spannen würden. Er sprach von sich als Tempel, als er auf dieser Erde unter den Juden lebte. Diese missverstanden seine Anspielung, weil sie den sichtbaren herodianischen Tempel im Blick hatten (Johannes 2,19-21).

Manche betonen ausschließlich den individuellen Aspekt des Tempels. Sie sagen:  „Wir sind ja der Tempel, also brauchen wir keine Institution mehr.“ Das ist jedoch eine Überbetonung und darum falsch. Gott hat die Institution der Kirche geschaffen und ruft den Einzelnen in die Gemeinschaft. Paulus spricht nicht nur davon, dass der Einzelne Tempel des Heiligen Geistes ist, sondern auch das Kollektiv des Gottesvolkes (2. Korinther 6,16).

Wir stehen bei der Frage, wo sich dieser Tempel heute befindet. Überlegen wir uns anhand von Davids Leben, wie dieser Wunsch in seinem Leben zum Tragen kam. Versuchen wir nachzuvollziehen, weshalb er sich nach diesem Ort sehnte. Als Jugendlicher hütete er alleine auf dem Feld das Kleinvieh der Familie. Er vertraute auf Gott, der ihn aus brenzligen Situationen mit wilden Tieren rettete (1. Samuel 17,37). Als er allein dem erfahrenen Riesen und Krieger Goliath gegenübertrat, rief er ihm kühn zu: „Ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heerscharen, des Gottes der Schlachtreihen Israels, die du verhöhnt hast!“ (1. Samuel 17,45) Nachher bekam er eine Stellung als Sänger am Königshof. Sein Vorgesetzter Saul war eine sehr launische Person. Einmal nannte er ihn seinen besten Krieger und hilfreichsten Vertrauten. Im nächsten Augenblick zerriss ihn die Eifersucht – weil er wusste, dass David sein Nachfolger sein würde. Er warf seinen Speer nach dem Diener David und verpasste ihn nur um Haaresbreite. Gott ließ ihn durch eine weitere harte Rüstzeit hindurchgehen. Er war über mehrere Jahre auf der Flucht vor dem eifersüchtigen Saul, der ihm nach dem Leben trachtete. Als Gott dem Leben Sauls schließlich ein Ende setzte, sang er kein Sieges-, sondern ein Trauerlied. Weitere sieben Jahre musste er als Stammesfürst Judas warten, bis das gesamte Volk Israel ihm die Krone anbot. Er focht zu dieser Zeit weitere Kämpfe mit dem General Sauls aus. An die Herrschaft gekommen, führte David zahlreiche Kriege gegen alle Nachbarvölker. Besonders die Philister machten ihm zeitlebens zu schaffen. David kämpfte so lange, bis seine bewährtesten Offiziere ihm das Vorangehen im Kampf untersagten. Sobald David die Herrschaft über Israel übernommen hatte, setzte er einen tiefen Wunsch seines Herzens um. Er wusste, dass Gott in der Mitte seines Volkes wohnen wollte. Bis dahin fehlten jedoch ein Ort und ein Gebäude dazu. Er sehnte sich danach, diesen Ort erbauen zu dürfen. Gott kündigte ihm an, dass erst sein Sohn diesen Wunsch in die Tat umsetzen könnte. So sammelte David lebenslang Material für den Bau des Tempels. Eine seiner wichtigsten Regierungshandlungen war die Überführung der Bundeslade, Wohnort Gottes, in die neue Hauptstadt Jerusalem. David freute sich mächtig und tanzte mit ganzer Kraft vor der Lade her. Eine seiner Frauen, Michal, sah ihm dabei zu und verachtete ihn in ihrem Herzen. Auf dem Höhepunkt der Macht, als David außenpolitische Stabilität geschaffen hatte, ereignete sich ein tragischer Zwischenfall. David fiel in schwere Sünde: Ehebruch, Mord und Lüge. Er tat Buße, doch Gott ließ ihn für den Rest seines Lebens an den Folgen dieser Sünde kauen. Drei Putschversuche wurden gegen ihn unternommen. Der eigene Sohn brachte seinen Erstgeborenen aus Rache um und wandte sich später gegen ihn, um ihm die Königskrone abzujagen.

Wir können nun die Frage beantworten: Saß David die ganze Zeit im Tempel? War er ein weltflüchtiger Sonderling? Kümmerte ihn seine Umgebung nicht mehr? Ganz und gar nicht! David stand sein ganzes Leben mit beiden Beinen in kriegerischen Handlungen. Ein Konflikt löste den anderen ab. David kämpfte gegen zahlreiche Feinde. Gott sagte zu ihm, dass er den Tempel nicht bauen dürfe, weil er zu viel Blut vergossen habe. Beachten wir: Während aller diesen bewegten Zeiten hat David Psalmen geschrieben, in denen er seine Abhängigkeit von Gott zum Ausdruck brachte im Auf und Ab seines Lebens. Sein größter Wunsch bestand darin, in seiner Gegenwart zu leben. Er stellte sich in seinen Schutz, weil er wusste, dass er allein ihn von anderen und von der eigenen Sünde erlösen konnte. Man lese etwa seinen Lebensrückblick (Psalm 18) oder sein Bußgebet nach dem fürchterlichen Absturz mit der Frau seines Nachbars (Psalm 51). Es gab eine Konstante in seinem Leben: Die Sehnsucht nach der Gemeinschaft mit Gott! Als Herrscher hätten ihn viele andere Wünsche und Vorhaben umtreiben können. Doch David wusste nur um diese eine Priorität. Er wurde der Mann nach dem Herzen Gottes genannt. Ich antworte nun auf die Frage, wann wir uns im Tempel befinden. Jeder einzelne Christ ist Gottes Tempel. Zudem bilden wir gemeinsam seinen Tempel. Leben wir dauernd in diesem Bewusstsein seiner Gegenwart? Es gilt in jedem Moment und in besonderem Maße, wenn Gottes Volk sich zusammenfindet.

Zahlreiche Gottesmänner – wie der Kirchenvater Augustinus, der Gelehrte des Mittelalters Thomas von Aquin, der Denker und Erfinder Blaise Pascal oder der Erweckungsprediger Jonathan Edwards – haben einen roten Faden im Leben des Menschen wahrgenommen: Alle suchen nach Glück. In uns wohnt ein Drang nach Glück und Erfüllung. Die Frage ist nun: Richtet sich unsere Sehnsucht nach dem richtigen Ort? Die erste Voraussetzung dafür ist natürlich das Bekenntnis Davids aus Psalm 27,1: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil.“ Wenn dies noch nicht der Fall ist, könnte es dein Gebetsanliegen werden, dass du eines Tages in diesen Wunsch einstimmen darfst. Wer in dieses Begehren einstimmen kann, der bitte darum, dass ihn der Wunsch beseelen kann, der bereits Davids Leben dominierte: Jederzeit vor und bei ihm zu leben!

2. Die Auswirkung: Vor wem sollte ich mich fürchten?

Der Rest des Psalms zeigt auf, wie sich dieser Wunsch Davids auf dessen Leben auswirkte. In aller Anfechtung blieb er getrost. Schauen wir näher hin, wie sich diese Zuversicht auswirkte.

Es gibt Feinde.

David wurde durch diesen Wunsch nicht weltfremd. Im Gegenteil: Er blickte mutig hin. Er spricht von Übeltätern, Widersachern, Feinden, ja von ganzen Heeren, die gegen ihn auszogen (V. 2-3). Er erlebte auch, wie ihn Vertraute verrieten (V. 10; vgl. Ps 55). Davids Leben wimmelte von Feinden. Seine Brüder waren ihm feindlich gesinnt; später Saul, sein Vorgesetzter; danach Abner, Sauls General. Er kämpfte gegen die Nachbarvölker. Später fanden sich seine Todfeinde in der eigenen Familie. Die Psalmen sind darum ein Lehrbuch für den Umgang mit Feinden. Ich sehe vier Möglichkeiten in der Anwendung auf unser Leben:

  1. Wir haben ebenso viele Feinde, merken es aber nicht.
  2. Es gibt diesbezüglich ruhige und bewegte Zeiten in unserem Leben.
  3. Die Anwendung ist in anderen Weltgegenden viel direkter (Verfolgung).
  4. Es ist für eine andere Zeit geschrieben.

Wahrscheinlich steckt die Wahrheit in der Kombination der ersten drei Möglichkeiten. Es stellt sich die Frage: Wo ist dein Kampffeld?

Gott deckt uns.

Direkt anschließend an seinen Herzenswunsch rühmt David Gottes herrlichen Schutz mit drei sich verstärkenden Satzteilen: „Denn er deckt mich in seiner Hütte zur Zeit des Unheils, er verbirgt mich im Schutz seines Zeltes und erhöht mich auf einen Felsen.“ (V. 5) Bei der Lektüre von J. R. R. Tolkiens Buch „Der kleine Hobbit“ wurde mir deutlich, was dieser Schutz bedeuten kann. Die Hauptfigur, Bilbo, befand sich auf einer abenteuerlichen Reise. Der Leser fiebert mit ihm mit. Würde er es schaffen, sich in Sicherheit zu bringen oder der akuten Gefahr zu entkommen? Nein! Dafür war er immer wieder zu langsam, zu schwach, zu unaufmerksam oder zu unvorsichtig. Er tat, was er konnte, doch er tappte immer wieder in eine Falle. Die entscheidende Hilfe kam stets von außen. Genauso ist es auch in unserem Leben. Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat (Psalm 124,8).

Wir können durch die Angst hindurch gehen.

Die Lösung ist also nicht die Bewahrung vor der Angst, sondern Gottes Schutz inmitten der Bedrängnis. David rief in dieser Zuversicht: „Vor wem sollte ich mich fürchten? Vor wem sollte mir grauen? Ich fürchte mich nicht und ich bin getrost.“ (V. 1+3) Doch beachten wir den Wechsel ab Vers 7. An dieser Stelle verwandelt sich der Psalm in eine flehentliche Bitte. Die Grundzuversicht wurde in einzelnen Situationen immer wieder auf die Probe gestellt. David musste erneut um die Zuversicht ringen und sich auf die Verheißungen Gottes berufen. Sonst wäre sein Leben anders verlaufen, wie es Vers 13 deutlich macht. „Ach, wenn ich nicht gewiss wäre, dass ich die Güte des Herrn sehen werde im Land der Lebendigen…“ Der Schlussruf gilt auch uns: „Harre auf den Herrn! Sei stark, und dein Herz fasse Mut, und harre auf den Herrn!“ (Vers 14) Beachten wir: Die Stärke besteht darin, Mut zu fassen und geduldig auf Gottes Hilfe zu warten.

Das führt uns zur zusammenfassenden Bitte: Herr, stärke unser Verlangen, von Augenblick zu Augenblick in deiner Gegenwart leben zu wollen!

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3 Kommentare

Predigt: Wo ist mein Zuhause? | Hanniel bloggt. 13. April 2016 - 08:59

[…] Wo bin ich zu Hause? Ein Mensch ohne Gott wird bestenfalls antworten: Bei mir selbst. Die Gewissheit meines Daheims war Thema einer Predigt über Psalm 27. […]

antworten
Reformierter Spiegel #30 | 17. April 2016 - 15:44

[…] WO IST MEIN ZUHAUSE? […]

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Elsbeth 18. April 2016 - 18:17

Danke, Hanniel! So weit weg von zu Hause ist es gut erinnert zu werden, wo eigentlich „zu Hause“ ist!

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