Charlie Hebdo und die Ironie der Toleranz

von Mario Tafferner
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Der 7. Januar 2015 wird wohl tiefen Eingang in das kulturelle Gedächtnis Europas finden. Das Attentat auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris unterscheidet sich in bedeutender Weise von vorherigen terroristischen Anschlägen in Europa wie in London oder Madrid. Ausgerechnet in Paris, der geschichtsträchtigen Heimat der französischen Revolution, wurde die Redaktion eines Magazins attackiert, das das Dogma der westlichen Gesellschaft auskostete: Liberté, Égalité, Fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit).

Aber zunächst zum Attentat. Am Mittwochvormittag gegen 11.20 Uhr stürmten zwei (oder drei?) maskierte Männer mit Kalaschnikows bewaffnet die Redaktion des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Die Zeitschrift ist politisch der französischen Linken zuzuordnen und wurde mitunter durch die Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen bekannt, die in der gesamten islamischen Welt für Entrüstung sorgten. Die Täter richteten ein Blutbad an. Nachdem sie im Gebäude, in dem die Zeitschrift ansässig ist, zunächst eine Reinigungskraft erschossen, töteten sie zehn Mitarbeiter der Zeitschrift (darunter vier der bekanntesten Karikaturisten Frankreichs). Auf dem Weg zu ihrem Fluchtwagen trafen sie auf einen französischen Polizisten, der im folgenden Feuergefecht zunächst verwundet und dann im „Vorbeigehen“ von einem der Täter kaltblütig exekutiert wurde. Letzteres wurde von einem Augenzeugen mit einer Handykamera gefilmt. Die Brutalität und Kaltblütigkeit dieses Moments ging seit Mittwoch um die Welt und sorgte für allgemeine Entrüstung. Zu Recht wie ich meine. Den Angehörigen der Opfer dieses grausamen Angriffs sollten unsere Gebete und unser Mitgefühl gelten.

Paris unterscheidet sich von London oder Madrid insofern, dass der Anschlag vom 7. Januar ein Angriff auf das war, was Europa und sein Erbe ausmacht. Die Freiheit und Gleichheit aller Menschen und ihrer Meinungen. Diese Werte zu verteidigen, sollte auch unser Bestreben als Christen sein. Da alle Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen sind (1. Mose 1,26-27), sind sie auch alle gleich viel wert. Die Freiheit des Denkens, Sagens und Glaubens ist ein Privileg, das die ersten evangelischen Christen in den Jahrzehnten nach der Reformation nicht genießen durften. Glaubens- und Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder Mensch das glauben und denken darf, was er will und dieses Recht auch Anderen zugesteht, auch wenn man deren Meinung nicht teilt. Dennoch gilt natürlich: Karikaturen, welche gläubige Menschen verhöhnen und erniedrigen sind zurückzuweisen. Wie sollen sie dem Frieden, der Freiheit und der Verständigung dienen?

Ich bin dankbar dafür, dass sich ein christliches Erbe noch immer in unseren westlichen Werten niederschlägt. Doch mir als Christ ist dieses Europa auch in vieler Hinsicht fremd geworden. Wäre dieses europäische Motto der Freiheit ein Schiff, dann würde aktuell durch tausende Lecks Wasser in den Schiffsrumpf fließen. Durch das Dogma der politischen Korrektheit wird unsere Meinungsfreiheit zunehmend eingeschränkt. Das gilt für viele Themen, die z.B. unsere Sexualität, unser Verständnis vom Wert des Lebens oder eben auch unsere Vorstellung einer absoluten Wahrheit betreffen. Leider gilt das auch für das aktuelle Thema Islam.

Ich glaube, dass die Zeit überholt ist, in der es möglich war, den „radikalen Islamismus“ sauber mit dem Skalpell vom „Islam“ abtrennen zu können. Zeitungen, Zeitschriften und andere Medien beschwören immer wieder herauf, dass all das (islamisch-motivierte Anschläge) nichts mit dem Islam zu tun habe. Wer anderer Meinung ist, muss damit rechnen, Opfer eines Shitstorms und zusätzlich als rechter Fanatiker abgestempelt zu werden.

Ich bin kein großer Freund der französischen Revolution oder von Charlie Hebdo. Aber hier zeigt sich für mich auf eigenartige Art und Weise, wie absurd das Dogma der politischen Korrektheit geworden ist. Das Attentat auf diese Zeitschrift war ein Angriff auf die Meinungsfreiheit in Europa und dennoch wird einem diese Meinungsfreiheit in Bezug auf die treibende Kraft dieses Anschlags genommen. Das Schiff der europäischen Freiheit sinkt und die tiefe Ironie des absoluten Toleranzdenkens wird offenbar.

In seinem Buch „Islamische Theologie“ schreibt Lutz Berger: „Für die frühen Muslime und bis weit ins 19. Jahrhundert war weitgehend unstrittig, dass mit dem Begriff Dschihad insbesondere der militärische Einsatz für den Islam gemeint war. Aus der Sicht des traditionellen Sunnitentums muss dieser Einsatz so lange geführt werden, bis alle bis dahin nicht unter islamischer Herrschaft stehenden Gebiete der Herrschaft des islamischen Rechts unterworfen sind.“

Weiter schreibt Berger: „In der heutigen Diskussion über den Dschihad wird von Muslimen oft auf den großen Dschihad als den eigentlichen Inhalt des Begriffs verwiesen…Dieser große Dschihad besteht im Kampf gegen die eigenen niederen Triebe. Die Vorstellung vom großen Dschihad stand jedoch nie im Widerspruch zur Vorstellung des Dschihad als militärischem Kampf…Eine wirkliche Umdeutung des Dschihad-Begriffs fand im Islam erst in der Zeit seit dem 19. Jahrhundert statt.“

Auch wenn sich im Extremismus und Terrorismus durchaus politische und religiöse Motivation vermischen, so ist es schier naiv zu behaupten, der Islam habe nichts mit all dem zu tun. Das Problem ist vielmehr ein anderes: In unserer aufgeklärten und liberalen europäischen Gesellschaft können wir uns nicht mehr vorstellen, dass normale und gebildete Menschen einmal „radikal“ gedacht haben oder noch immer „radikal“ denken. Wir können uns nicht mehr vorstellen, dass man etwas über sein eigenes oder das allgemeine Wohlbefinden stellen kann. Genau deshalb trifft uns Charlie Hebdo so hart. Manche träumen vom europäischen, aufgeklärten Islam, in dem man die medinensischen Suren, die zur Gewalt gegen Andersgläubige aufrufen, einfach nicht mehr beachtet. Man hofft, dass der Islam eine ähnliche Entwicklung durchmacht wie das liberale Christentum. Doch was man dann vergisst, ist, dass die Mehrheit der Muslime nun mal kein europäisches Weltbild hat und auch keines haben will. Es gibt eben Muslime, die sich an den frühen „goldenen“ Zeiten des Islams orientieren und an einer Auslegung festhalten, die offensichtlich über 13 Jahrhunderte den Islam dominierte. Es ist schlichtweg naiv, zu leugnen, dass all das nichts mit dem Islam selbst zu tun hat.

Sollten wir Christen nun Islamgegner werden? Ich denke nicht. Die Glaubensfreiheit gilt auch für Muslime, egal ob sie moderat oder extremistisch sind. Die Handlungsfreiheit ist natürlich eine andere Ebene. Im Gegensatz zu vielen Medien, die den Menschen vorschreiben wollen, was sie zu tolerieren oder zu denken haben, halte ich an der Freiheit des Denkens und Sagens fest.

Meine Antwort auf den radikalen Islam stammt von Jesus: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Matthäus 5,44). Die Angreifer vom Mittwoch sind nicht besser als ich. Wie auch sie brauche ich Gottes vergebende Gnade, die mir in Christus erwirkt wurde. Beten wir dafür, dass Christus sich über all diejenigen erbarmt, die mit den Attentätern sympathisieren. Denn genauso wie wir haben sie nichts, womit sie vor Gott bestehen können und sind ganz von Seiner Gnade abhängig.

Wir Christen müssen nicht dem naiven Menschenbild der meisten Europäer folgen. Wir dürfen uns eingestehen, dass alle Menschen gegen Gott gesündigt haben und alle Menschen von Grund auf böse sind. Genauso dürfen wir aber auch nicht überheblich werden und uns über Andere stellen, weil auch wir von Grund auf böse waren.

Unser Bundespräsident Gauck sagte vor einigen Tagen im Angesicht des Terrors: „Wir sind weder ohnmächtig noch hilflos!“ Ich denke aber, dass wir genau das sind. Im Angesicht unserer eigenen und jedes Anderen Unzulänglichkeit sind wir hilflos. Jeder Mensch kann zum Terroristen werden. Es wird Zeit, dass unsere Gesellschaft sich das wieder eingesteht. Und es wird Zeit, dass wir Christen wieder mutig auf Christus und sein Wort hinweisen. Nur dort ist wahre Hilfe gegen die menschliche Ohnmacht zu finden.

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5 Kommentare

Aus den Medien: Die Terrorakte in Frankreich und die christliche Weltsicht | Hanniel bloggt. 11. Januar 2015 - 18:09

[…] ich den Post schon beendet hatte, las ich den Beitrag “Charlie Hebdo und die Ironie der Toleranz” des Theologen und Altorientalisten Mario Tafferner. Unbedingt […]

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Lars B. 13. Januar 2015 - 13:32

Ein phantastischer Artikel! Ganz und gar spricht er mir aus dem Herzen. Danke Dir sehr dafür, Mario! Danke, für Deine Liebe zur Wahrheit!

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Marcus 15. Januar 2015 - 12:49

Hier ist eine mehr philosophische Verteidigung des „Rechts auf Blasphemie“ von konservativer Seite, die mich mehr überzeugt: http://www.patheos.com/blogs/inklingations/2015/01/09/for-blasphemy-and-for-evangelism/

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Mario 19. Januar 2015 - 12:57

Wenn ich den Artikel richtig verstanden habe, dann ist die Punchline seines Arguments, dass Christen in einer pluralistischen Gesellschaft Blasphemie tolerieren sollen, weil a) der säkulare Staat nicht mit solchen Aufgaben vertraut werden sollte, da wir nicht Mitglieder einer christlichen Theokratie sind und b) weil Blasphemie zu tolerieren erst die Meinungsfreiheit gewährleistet innerhalb derer im pluralistischen Dialog Evangelisation möglich ist.

Nun denn. Zunächst kann ich seine Vorstellung vom säkularen Staat nicht teilen. Es scheint mir so, dass in dem Artikel eine künstliche Situation der Extrempositionen zwischen einer Theokratie auf der einen Seite und einem säkularen Staat auf der anderen Seite vorrausgesetzt wird. Als gäbe es nur diese zwei Optionen: Theokratie oder eben pluralistischer Staat. Das Problem ist nur, dass ich an keinen real existierenden pluralistischen Staat glaube. Wie wir neulich schon im persönlichen Gespräch besprochen haben, halte ich viel mehr daran fest, dass jeder Staat ideologiegetragen ist, ja dass jeder Staat im Prinzip seinen eigenen Ethos bzw. Mythos besitzt, den er entweder ererbt oder sich selbst geschaffen hat. Dieser Ethos schafft Moral, Werte und eben Recht. Ein reiner Pluralismus aber besitzt keinen Ethos. Nun ist aber die Frage wer bestimmt welche Werte gelten. Und dabei halte ich es schlichtweg für naiv zu glauben wir als Christen sollten uns der Illusion eines säkularen Staates hingeben, damit wir den Staat nicht mit Aufgaben betrauen, die ihm „die Schlüssel des Königreiches geben“. Wenn es reinen Pluralismus gäbe, dann würde ein Wertevakuum entstehen (Wer sagt denn überhaupt, dass die Freiheit aller Meschen gut ist?). Der „säkulare“ Staat muss dieses Wertevakuum füllen – mit einem Ethos eben. Setzen wir uns als Christen nun für einen christlichen Ethos in unserem Staat ein? Ich würde sagen ja. Andererseits füllt ein „Mythos“ das Vakuum aus. Deshalb glaube ich ist es sinnvoll sich gegen Blasphemie zu stellen. Freiheit, Glaubensfreiheit und Meinungsfreiheit sind keine Werte an sich. Sie sind immer durch einen Ethos bestimmt und beeinflusst.

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Marcus 22. Januar 2015 - 09:32

Es scheint mir dann die Frage zu sein, welches die ‚Leitkultur‘ sein soll. Deine Logik scheint mir, aus christlicher Perspektive, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Ich hatte dir an anderer Stelle die Frage gestellt, ob du gleichzeitig zB einen Antidiskriminierungsparagraphen befürworten würdest, der es unter Strafe stellte, Homosexualität als Sünde zu bezeichnen, weil es eine größere Minderheit als die Evangelikalen als beleidigend empfindet.
„jeder Staat [ist] ideologiegetragen“. Nun, das würde ein reiner Pluralismus ja gar nicht ausschließen, auch eine Leitkultur nicht der Regierung oder regierenden Instanz absprechen. Aber er würde die Möglichkeit zur Meinungsvielfalt bieten. Pluralismus ist nicht gleich Relativismus.
Und ich denke, dass du dich der Logik des Artikels eigentlich entziehst. Denn die Leitkultur in den westlichen Staaten ist schon lange keine konservativ-christliche (mehr). Deine Logik würde dann unweigerlich dahin führen, dass die Möglichkeiten, eine traditionelle Spiritualität zu leben, immer mehr eingeschränkt werden würde.
Mal abgesehen, dass du einen zentralen Satz einfach hinstellst: „Freiheit, Glaubensfreiheit und Meinungsfreiheit sind keine Werte an sich.“ Zum einen würde die lange Tradition des Naturrechts gerade das bezweifeln. Aber man braucht nicht einmal Naturrecht um das zu argumentieren. Wenn wir als sozial-stabilierende Ordnung das akzeptieren, was der kleinste gemeinsame Nenner der Gesellschaft ist (was dann, mit Fug und Recht „Allgemeingültigkeit“ beanspruchen kann – als Gemeinschaftsgültigkeit), dann sind es wohl gerade d i e s e Werte, die den Wertekanon anführten.

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